„Als die Mauer fiel, wurde es endlich möglich für uns, nach Leipzig zurückzukehren“, erinnert sich Mike Joseph. Sein Großvater Israel Gold war Pelzhändler am Brühl. 47 Mitglieder der Familie Gold wurden verhaftet, deportiert und von den Nationalsozialisten ermordet. Die meisten starben vermutlich während des sogenannten Blutsonntags auf einem Feld nahe Stanislow (heute Ivano-Frankivsk), mit 12.000 anderen. Trotz jahrzehntelanger Recherche konnte Mike, der in Wales lebt und als Reporter für die BBC ein beeindruckendes Radiofeature über seine Familiengeschichte veröffentlichte, nie herausfinden, was genau mit seinen Angehörigen geschah.
Seit 1992 gibt es das „Besuchsprogramm für ehemalige jüdische Leipziger“, 2009 öffnete der Stadtrat es auch für deren Kinder und Enkel. „Die Nachfrage ist riesig. Ich hoffe, dass wir das noch möglichst lange machen können. Es ist ein schönes Zeichen, dass es nicht nur ein Programm der Stadtverwaltung ist, sondern auf vielen Schultern der Zivilgesellschaft ruht“, sagt Sven Trautmann, der das Besuchsprogramm leitet (und im Verlag Hentrich&Hentrich einige Bücher zur jüdischen Geschichte Leipzigs veröffentlicht hat).
Diese Woche war es wieder so weit, rund 60 Gäste, der jüngste gerade drei Monate alt, waren zu Besuch und verbrachten dabei auch einen halben Tag im Ariowitsch-Haus. Sie kamen aus Israel, den USA, der Schweiz, aus England, Deutschland, Schweden und Wales. „Heute hat sich die Familie Gold mit mehr Mitgliedern in Leipzig versammelt als jemals zuvor seit jenem 9. November 1938.“ Sagen zu können: Hier um die Ecke ist meine Mutter geboren worden – das sei ein einfacher Gedanke, aber er bedeute ihm die ganze Welt, erklärte Mike Joseph seiner und den anderen Familien bei der Vorstellung seiner Recherche. Im Anschluss wartete der Leipziger Synagogalchor im Saal des Ariowitsch-Hauses mit einer Überraschung. Er unterbrach seine Probe, um für die Gäste ganz besondere Musikwünsche zu erfüllen. Bei einer Motette von Felix Mendelssohn Bartholdy reihten sich auch ein Bass und ein Tenor aus der Besuchsdelegation in die Reihen des Chors ein. Einer von vielen tief bewegenden Momenten dieses Tages, denn der 1962 gegründete Chor widmet sich zwar ausschließlich jüdischer Chormusik – hat aber selbst keine jüdischen Mitglieder.